Klassenfahrten für mehr Zivilcourage in Westfalen-Lippe
Die Tür zum Sechser-Jungszimmer im Erdgeschoss der Jugendherberge Bad Driburg steht offen. Die Sechstklässler unterhalten sich darin lauthals, zwei von ihnen stolpern mit Süßigkeitentüten in den Händen ungestüm auf den Flur, auf dessen Boden bereits zwei leere Weingummitütchen liegen. „Oh, da habt ihr wohl Müll liegenlassen”, sage ich im Vorbeigehen. Die Jungs schauen erst das Plastik, dann mich an. Sie zucken mit den Achseln und rennen weiter. „Is nicht von mir“, ruft mir einer der beiden Schüler über die Schulter zu. „Warum soll ich das also aufheben?“
Sich nicht verantwortlich fühlen für das, was in einer Gemeinschaft passiert – für Sven Fritze und Thorsten Körber haben kleine Alltagssituationen wie diese Symbolcharakter. Vor drei Jahren haben die beiden Psychologen Helden e.V. gegründet, einen Verein, der in und mit Schulen daran arbeitet, Mobbing, Cyber-Mobbing und Rassismus zu verringern. Seit 2017 sind „die Helden“ Partner der Jugendherbergen zwischen Nordsee und Sauerland. Aktuell gibt es an sieben Jugendherbergen in Westfalen-Lippe Klassenfahrtsprogramme, bei denen das Team von Helden e.V. mit einer abwechslungsreichen Mischung aus erlebnispädagogischen Teamaufgaben, sozialpsychologischen Experimenten und Outdoor-Aktionen den Zusammenhalt in Klassen stärkt und zu Zivilcourage animiert. Ich habe bei der Klassenfahrt „Heldenakademie: Starke Klasse!“ in Bad Driburg vorbeigeschaut.
Moderne Alltagshelden – welche Eigenschaften haben sie?
Worum es die nächsten eineinhalb Tag für die vier sechsten Klassen aus Sassenberg gehen wird, lese ich bereits an der Tür zum Tagungsraum: „Teamgeist“ lautet der Name, den das Zimmer derzeit trägt. Zwanzig Schülerinnen und Schüler sowie zwei Lehrer gehören zur Gruppe, die in den nächsten eineinhalb Tagen von Thorsten und Maria betreut werden. Drei weitere Gruppen mit ebenfalls je zwei Vertretern von Helden e.V. sind auf die anderen Tagungsräumen der Jugendherberge Bad Driburg verteilt.
Stühle, eine große Papierrolle, Karteikärtchen und Stifte – mehr sehe ich im Raum nicht. „Ist es okay, wenn wir uns duzen”?“ eröffnet Thorsten die Runde. Er trägt ein aufgekrempeltes Hemd, Sneaker, Bart. Auch Maria sieht mit den Trekkingschuhen an ihren Füßen, der Sonnenbrille am Kragen und dem sportlichen Shirt alles andere aus als ein spießiger Moralapostel. „Ich bitte Euch, vertrauensvoll mit dem umzugehen, was wir hier in diesem Raum besprechen, und keine Inhalte weiterzugeben. Könnt Ihr das?“, leitet Thorsten weiter in den Workshop ein. Niemand widerspricht, ein paar brummen zustimmend. Zu groß scheint noch die Unsicherheit über das, was heute passiert, zu sein. Thorsten und Maria klären auf: Ziel der gemeinsamen Zeit sei es, herauszufinden, was einen modernen Helden von heute auszeichnet und wie viele dieser Eigenschaften die Mitglieder der Gruppe bereits mitbringen. „Dafür machen wir eine Reihe an Spielen, die Test und Experiment zugleich sind.“
Nach einer ersten Übung zum Warmwerden – Thorsten und Maria stellen sich ausführlich vor, bauen aber eine Lüge in ihre Informationen ein, die es aufzudecken gilt – sind dann die Kids an der Reihe. „Peinliche Fragen“ lautet das Stichwort des Spiels, das es zu absolvieren gilt. Bevor es losgeht, möchte Thorsten von den Sechstklässlern aber eins wissen: „Was würdet Ihr sagen ist echtes Selbstbewusstsein?“ „Dass man sich was traut“, „Dass man nicht schüchtern ist“, „Wenn man sich nicht ärgern lässt und sich wehren kann“, rufen die Kinder in den Raum. „Wisst Ihr, echtes Selbstbewusstsein heißt auch, zu erkennen, wann eine persönliche Grenze erreicht ist“, ergänzt Thorsten. „Man kann auch als introvertierter Mensch selbstbewusst sein. Das Wort heißt ja buchstäblich, dass man sich darüber bewusst ist, wer man ist, was man kann und was nicht. Behaltet das mal im Hinterkopf, wenn wir jetzt das Spiel machen“.
Kuscheln mit Mama und Papa – von wegen peinlich
Die Spielanordnung ist schnell erklärt: Ein Stuhl wird aus dem Stuhlkreis genommen, eine Person stellt sich in die Mitte, stellt eine peinliche Frage und alle, die darauf mit „Ja“ antworten wollen, stehen auf und setzen sich auf einen freiwerdenden Platz. Eine Person bleibt zwangsläufig übrig und stellt in der Mitte stehend die nächste Frage.
„Wer hat schon mal gelogen?“, „Wer hat im Schwimmbad schon mal ins Wasser gepullert?“ „Wer hatte schon mal Heimweh und hat es nicht gesagt?“ „Wer hat schon mal mit einem Baum gekuschelt?“ Nach anfänglicher Scheu trauen sich die Beteiligten, immer heiklere Fragen zu stellen. Was mir auffällt: Sich zu „outen“, indem man aufsteht, scheint weniger schwer zu sein als im Mittelpunkt zu stehen und die Fragen zu stellen. Gerade die Mädchen tun sich schwer. Immer wieder stehen sichtbar überforderte Schülerinnen da, flüstern kaum hörbar und verschämt „Mir fällt nichts ein!“, lassen sich Ideen von den Mitschülern geben, die sie dann kaum lauter weitergeben. „Wer geht noch zu Mama und Papa kuscheln?“, „Wer hatte schon mal Taschengeld seiner Geschwister geklaut?“, „Wer hat schon mal öffentlich gefurzt?“ – andere habe hingegen weniger Scheu.
Nachbesprechung. „Ist Euch aufgefallen, wie Eure Körperhaltung so war bei der Übung?“ fragt Thorsten. Stille. „Oder wie Ihr Euch verhalten habt, nachdem eine Frage gestellt wurde?“ Unsicheres Murmeln. „Eigentlich alle von Euch haben sich kurz nach rechts und links umgeschaut“, erläutert der 29-Jährige. “Ihr wolltet erst wissen, dass auch jemand anderes aufsteht, bevor ihr Euch selbst traut. Es gab aber nicht eine Frage, bei der niemand aufgestanden ist – jeder von Euch hat schon mal etwas getan, was einem peinlich sein könnte. Das verbindet Euch als Gemeinschaft.“
Wichtige Präventionsarbeit. Überlebenswichtig manchmal.
Locationwechsel. Die Gruppe geht hinüber ins Leichtathletikstadion, das sich direkt vor der Jugendherberge Bad Driburg befindet. Ein Bewegungsspiel steht auf dem Programm: unter einem schwingenden Seil durchlaufen. Allein, zu zweit, zu dritt… und irgendwann als ganze Klasse. “Ein Spiel, bei dem immer deutlich wird, welche Heldenkräfte es für ein gemeinsames gutes Ergebnis braucht: Vertrauen, dass sich alle an Absprachen halten. Vertrauen, dass man für Fehler nicht ausgelacht oder beschimpft wird. Eine eindeutige freundliche Kommunikation. Teamwork”, so erklärt mir Thorsten auf dem Weg dorthin. “Der Schwerpunkt bei der heutigen Klassenfahrt liegt stärker auf teambildenden Spielen als bei höheren Klassenstufen. Ab der siebten Klasse können wir mit unserer zentralen Arbeit so richtig beginnen. Je älter die Kids, desto konkreter können wir auch zu den Themen Rassismus und Mobbing arbeiten.”
Dass diese inhaltliche Arbeit notwendig und manchmal sogar überlebenswichtig ist, beweisen Nachrichten, die Helden e.V. in den Sozialen Medien oder per Mail regelmäßig erhält. “Manche Jugendlichen googlen nach Initiativen und Beratungsstellen, wenn sie von Ausgrenzung betroffen sind und sich lebensmüde fühlen, und landen dann bei uns. Streng genommen sind wir zwar der falsche Ansprechpartner und können dann auch nur unmittelbar an die passenden Einrichtungen verweisen, auf der anderen Seite sind diese emotional aufrüttelnden Zeilen, die uns da mitten im Arbeitsalltag erreichen, nochmal mehr Antrieb für uns, mit unseren Präventionsangeboten an Schulen weiterzumachen. Sie zeigen in drastischer Form, welche massiven Auswirkungen Mobbing auf das Leben von Schülerinnen und Schülern haben können.”
Mit insgesamt drei Gruppenaktionen und jeweils einer ausgiebige Reflexion über die darin offenbarten Verhaltensweisen ist der Nachmittag des Anreisetages für die Sechstklässler und ihre Lehrer gefüllt. Welche Experimente und Spiele die einzelnen Gruppen absolvieren, variiert. “Wenn wir bemerken, dass die Gruppe gerade auf ein besseres Verständnis eines für sie wichtigen Themas hinsteuert, dann reagieren wir darauf natürlich flexibel”, schildert mir Sven Fritze am Abend. Wir gehen zwar mit einem Plan für den Ablauf in die Tage, beobachten die Gruppendynamik aber immer genau und passen uns ihr an.”
Zusammenhalten gegen Gewalt
Für den zweiten Tag mit ihrer Gruppe haben sich Thorsten und Maria vorgenommen, die Bedeutung eines Normen- und Werterahmens sichtbar zu machen. In einem aufgeklbten Rahmen stehend erklärt Thorsten seiner Gruppe, dass sie in ihrem Alltag nicht nur von einem Werterahmen umgeben sind, sondern dieser “moralische Kompass” orts- und personenabhängig sei. Er sich auch ändern könne. “Euer Klassenraum ist auch eine Art Werterahmen. Ihr müsst alle gemeinsam entscheiden, welche Regeln und Werte in Eurer Klassengemeinschaft herrschen. Wie reagiert ihr als Gruppe beispielsweise, wenn ein Einzelner von jemandem anderes in diesem Rahmen angefeindet wird? Gehört Gewalt zu Eurem Rahmen dazu oder entscheidet Ihr Euch, dass das nicht in Ordnung ist? Und wenn ja: was unternehmt ihr dagegen?”
Dass Gewalt nicht in Ordnung sei, darauf können sich die Sechstklässler alle verständigen. Doch Thorsten will es noch genauer wissen: “Was ist Eurer Meinung nach denn Gewalt?”. Die Antworten kommen zahlreich: “boxen”, “treten”, “beißen”, “schlagen”, “kneifen” kommen als erstes. “Jemandem wehtun.” Erst am Ende fällt ein für diesen Tag wichtiger Hinweis: “jemanden beleidigen”.
Die Gruppe wird geteilt. Die eine Hälfte setzt sich in den Rahmen, die andere Hälfte soll gewaltfrei versuchen, sie aus dem Rahmen zu ziehen. Nach 29 Sekunden haben es die “Angreifer” geschafft: die Gruppe sitzt nicht mehr in ihrem Rahmen. Wechsel: nun dürfen die ehemaligen Angreifer Zusammenhalt beweisen. Auch sie haken sich an ihren Armen unter, neigen den Kopf nach unten und versuchen, möglichst lang nicht getrennt zu werden. Sie schaffen es etwas länger.
“Ich habe Stop gerufen, weil es mir am Arm wehgetan hat, aber das hat niemanden interessiert”, sagt einer der Schüler hinterher. “Echt? Haben wir überhaupt nicht gehört”, sagen alle anderen. “Mir hat es auch wehgetan”; gibt ein weiterer Junge zu. “Ich habe aber nicht Stop gerufen. Ich war zu ehrgeizig.”
Thorsten und Maria nicken wissend. “Nicht verlieren wollen, nicht laut genug Stop sagen, kommt Euch das bekannt vor? Erlebt Ihr das nicht manchmal auch auf dem Schulhof, wenn jemand Euch beleidigt?.” Einige Kinder bestätigen es. “Man will keine Petze sein” und “Man hat Angst, nicht mehr zur Gruppe zu gehören” erklären sie.
Mit Gesprächen und Spielen dieser Art verbringt die Klasse 6B aus Sassenberg den restlichen Tag. Klebt Post-Its mit Heldeneigenschaften auf ein Plakat mit einem aufgemalten Helden. Dieses Plakat, es soll nach der Klassenfahrt in ihrem Klassenraum hängen.
Als Erinnerung daran, welche Eigenschaften einen Helden von heute auszeichnen.
Klassenfahrtsprogramme mit dem Verein Helden e.V. werden aktuell in folgenden Jugendherbergen angeboten: Bad Driburg, Bielefeld, Detmold, Horn-Bad Meinberg, Paderborn, Petershagen, Rüthen und Wewelsburg. Ein Interview mit Sven Fritze über die Arbeit von Helden e.V. und über die Dynamik von Mobbing unter Kindern mit einigen wertvollen Hinweisen für Eltern und Lehrern findet ihr hier: Mobbing an Schulen – Interview mit Sven Fritze.
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