Wie begegnet man Cyber(-Mobbing) und Rassismus?

Kinder bei einem Programm von Helden e.V.

Ein Interview mit Sven Fritze von Helden e.V.

Kannst Du uns erklären, was ihr eigentlich macht?

Ja, sehr gern!

Im Jahr 2015 haben wir als Studenten den Helden e.V. gegründet, um im Bereich der Erlebnispädagogik neue Wege zu gehen. Alle Gründer waren damals erlebnispädagogische Trainer bei verschiedensten Anbietern. Wir sind in den Schulklassen, mit denen wir gearbeitet haben, immer wieder mit Problemen wie Cybermobbing und Rassismus konfrontiert, bei denen wir mit den Methoden, die wir kannten, an Grenzen gestoßen sind.

Kurz nach der Gründung hatte ich das Glück, Professor Philip Zimbardo kennen zu lernen, der mich damals zum “Heroic Imagination Project (HIP)”-Trainer ausgebildet und mich zur deutschen Vertretung des Projekts gemacht hat. Die Idee des HIP ist es, Menschen zu Heldinnen und Helden zu machen, in Situationen, in denen andere Menschen ihre Hilfe benötigen. Zudem klärt das HIP über verschiedenste sozialpsychologische Effekte auf und erweitert so den Horizont der Teilnehmenden.

Die Idee sozialpsychologische Effekte in unserer Arbeit zu nutzen hat uns damals alle sehr begeistert und so haben wir begonnen, Methoden zu konzipieren, bei welchen wir nicht nur über die psychologischen Effekte sprechen, die uns in unserem Leben beeinflussen, sondern sie erlebbar und spürbar zu machen.

Das war die Geburtsstunde der “Heldenakademie”. In diesem Seminar lernen die Teilnehmenden einen Normen- und Werterahmen in ihren Gruppen aufzubauen, in dem jeder und jede so sein kann, wie er oder sie sein möchte. Ohne Angst davor haben zu müssen, Opfer von Ausgrenzung, Rassismus oder Gewalt in jeglicher Form zu werden. Wir glauben, dass nur wenn wir sensibel für die Mechanismen sind, welche uns manipulieren, wir uns dagegen wehren und unsere eigenen Entscheidungen treffen können – auch unter dem Druck, der von einer Gruppe oder einer Autorität ausgeht. Bis heute ist die “Heldenakademie” unser meistgebuchtes Programm.

Seit 2017 haben wir weitere Workshops entworfen, wie “Global Bystander”, bei welchem es um Bildung für nachhaltige Entwicklung geht, “Deine Wahl”, der eine besondere Form von Demokratietraining ist, sowie unsere “Mobilen pädagogischen Escape-Rooms”, in denen wir anhand der Geschichten von Emma & Tom die Phänomene “Cybermobbing” und “Cybergrooming” erlebbar machen.

Zudem setzen wir uns seit 2021 sehr intensiv mit den Entwicklungsverzögerungen auseinander, die die Corona-Pandemie bei den Kindern und Jugendlichen ausgelöst hat.

Das Projekt ist seit der Gründung stetig gewachsen und wir sind sehr stolz, dass wir im Jahr 2022 bundesweit über 15.000 Kinder und Jugendliche mit unseren Workshops erreichen konnten.

Warum braucht es gerade jetzt Helden?

Seit 8 Jahren befinden wir uns als Gesellschaft konstant in unterschiedlichen Krisen und damit einhergehend spaltet sich die Gesellschaft immer weiter auf. Begonnen hat es mit der Migrationskrise, in der sich die Gesellschaft das erste Mal in die Gruppen “Wutbürger” und “Gutmenschen” gespaltet hat. Danach kam im Jahr 2017 die Klimakrise und dann im Jahr 2020 die Corona-Krise, in der wir meiner Meinung nach die bisher stärkste Spaltung erlebt haben. Ich denke, dass unterschiedliche Meinungen wichtig für eine Demokratie sind, und dass wir als Gesellschaft an einem gut geführten Diskurs wachsen können. Leider ist dieser Diskurs jedoch oftmals nicht gut geführt. Stattdessen werden Menschen ausgegrenzt, diffamiert und beleidigt. Und Social Media wirkt auf diese Phänomene noch mal wie ein Katalysator, spaltet die Menschen weiter und löst in ihnen Angst, Wut, Trauer und Stress aus.

Und genau diese Gefühle übertragen sich auch auf die Kinder und Jugendlichen und werden so auch in die Schulen getragen.

Viele der Teilnehmenden, mit denen wir in unseren Workshops arbeiten, sind zwischen 12 und 18 Jahre alt. Das bedeutet, einen Großteil ihres Lebens haben diese jungen Menschen in diesen Krisenzeiten verbracht.

Wir wollen diese Kinder und Jugendlichen stark machen, sich für ihre eigenen Werte einzusetzen. Wir möchten, dass sie miteinander in Kontakt sind und in einem angstfreien Raum richtige Freundschaft und Zugehörigkeit erleben können.

Nur wenn wir dieses starke Fundament in den Kindern und Jugendlichen anlegen, haben wir die Chance, dass sie zu psychisch gesunden, mündigen jungen Erwachsenen heranwachsen.

Welche Methoden wendet ihr an, um Zivilcourage bei Schülern zu stärken?

Wir haben sehr viele Methoden, die sich mit dem Thema “Zivilcourage” in den unterschiedlichsten Facetten auseinandersetzen. Ein Beispiel dafür wäre unsere Methode “Heikle peinliche Fragen”, die oftmals die erste Methode in unseren Seminaren ist.

Bei dieser Methode sitzt die Gruppe in einem Stuhlkreis, in dem es einen Stuhl zu wenig gibt. Eine Person steht in der Mitte. Diese Person stellt eine Frage an die Gruppe, z.B. “Wer hat schon einmal seine Eltern belogen?”, “Wer hat schon mal etwas geklaut?” oder “Wer hat schon mal ins Schwimmbecken gepinkelt?”. Die Teilnehmenden, die sich durch die Frage angesprochen fühlen, dürfen dann aufstehen und sich so schnell wie möglich einen neuen Platz suchen. Die Person, die übrig bleibt, darf die nächste Frage stellen.

Diese Methode wirkt auf den ersten Blick wie eine spaßige Aufgabe, irgendwo zwischen Eisbrecher, Mutprobe und Partyspiel. Das, was während der Aufgabe aber in einem passiert, ist hoch relevant. Bevor die meisten aufstehen, schauen sie sich nämlich nach rechts und links um und gucken wer noch aufsteht und viel wichtiger, ob sie wohlmöglich die Einzigen sind, die aufstehen. Man kann das bei der Aufgabe als Seminarleitung richtig sehen, wie manche fast schon aufspringen und sich dann im letzten Moment doch wieder hinsetzen.

Beobachtungen wie diese teilen wir mit den Teilnehmenden und stellen Fragen wie z.B. „Was wäre passiert, wenn du die einzige Person gewesen wärst, die aufgestanden wäre?“. Schnell erklären uns die Teilnehmenden dann, dass sie Angst davor hätten, dass die anderen Witze machen oder dass sie deswegen ausgegrenzt werden. Und so entsteht ein Kontakt innerhalb der Gruppe, bei dem diese beginnt zu spüren, wie es sein könnte, wenn es niemanden gäbe, der Witze über einen macht oder einen ausgrenzt, auch wenn man vielleicht gerade etwas Peinliches gemacht oder gesagt hat. In der Regel stellt die Gruppe schnell fest, dass eigentlich alle den Wunsch haben, in einem solchen geschützten Raum zu leben. Und Teil eines Systems zu sein, aus dem sie nicht rausfallen oder ausgegrenzt werden, nur weil sie andere Ansichten, eine andere Hautfarbe, einen anderen Musikstil, ein anderes Geschlecht oder einen anderen sozialen Hintergrund haben.

Und dazu gehört dann natürlich auch, dass sie sich innerhalb und außerhalb der Gruppe dafür einsetzen, dass ein solcher Rahmen geschaffen wird, und sie sich auch für jemanden einsetzen, der gerade Opfer einer solchen Ausgrenzung wird.

Kinder bei der Durchfürhrung eines Programms bei Helden e.V.

Eine Lehrkraft merkt, dass es in einer Klasse Fälle von (Cyber-)Mobbing oder Rassismus gibt. Was sollte sie tun?

Das Wichtigste ist, dass die Lehrkraft reagiert. Reagiert sie nicht, bekommen die Täter das Gefühl, ihr Verhalten wäre in Ordnung und das Opfer bekommt das Gefühl, nicht mal die Lehrkraft wäre auf ihrer Seite. So entsteht ein Phänomen, das wir als Machtvakuum bezeichnen. Und dieses Machtvakuum füllt sich oftmals sehr schnell. Nur leider wird es dann häufig von den Schülerinnen und Schülern gefüllt, die es nutzen, um über Angriffe und Erniedrigungen anderer Mitschüler ihren eigenen Status zu erhöhen, was natürlich, nebenbei gesagt, nicht funktioniert.

Zudem sollte die Lehrkraft früh das Gespräch mit anderen Lehrern und den Eltern des Täters und des Opfers (natürlich getrennt voneinander) suchen.

Leider ist es in der Realität aber oft nicht so einfach. Oftmals bekommen die Lehrkräfte das nämlich nicht mal richtig mit oder haben gar keine Zeit für solche Interventionen. Ich finde, wir erwarten da manchmal etwas zu viel.

Viele Lehrkräfte sind innerhalb von 6 Stunden in 3 bis 6 unterschiedlichen Schulklassen pro Tag mit jeweils 25 Schülerinnen und Schülern. In dieser Zeit müssen sie die Unterrichtsinhalte vermitteln, Hausaufgaben kontrollieren, die Schülerinnen und Schüler bezüglich der mündlichen Noten im Blick behalten, sich mit Kollegen über Vorfälle in den Klassen austauschen usw.

Viele Lehrer bekommen das trotzdem noch mit und intervenieren hervorragend. Davor habe ich großen Respekt. Ich kann aber auch nachvollziehen, wenn bei der Art und Weise wie unser Schulsystem strukturiert ist, es vielen Lehrkräften nicht immer perfekt gelingt. In solchen Fällen helfen wir dann gern.

Leider melden sich die Schulen häufig erst sehr spät bei uns. Wenn aus anfänglichem Ärgern schon ein handfester Mobbingfall geworden ist, wenn Nacktfotos von Schülerinnen oder Schülern in fast allen Klassenchats verschickt wurden oder wenn sich bei den Opfern schon psychische Folgen des Mobbings zeigen.

Wir unterstützen sehr gern auch schon in einer frühen Phase. So können wir gemeinsam mit den Lehrkräften auftretende Schwierigkeiten im Normen- und Werterahmen der Klasse schnell aufdecken und die Schülerinnen und Schüler dabei unterstützen, eine gute Klassengemeinschaft zu formen, in der sich alle gegenseitig unterstützen.

Die Jugendherbergen sind euer Partner, warum ist eine Klassenfahrt der richtige Rahmen für euer Programm? 

Das hat ganz viele Gründe. Zum einen haben wir bei Programmen während der Schulzeit sehr starre Zeiten. Das heißt, auch wenn uns durch die Schule zugesichert wird, dass wir unabhängig von den regulären Pausenzeiten, die Pausen so gestalten können, wie wir wollen, ist doch spürbar wie der Pausengong dazu führt, dass die Aufmerksamkeit in einer Schulklasse enorm sinkt. Während einer Klassenfahrt können sich die Schülerinnen und Schüler optimal auf den Workshop konzentrieren, ohne durch Pausenzeiten, andere Klassen, Probleme am Nachmittag, Beobachtung durch andere Jugendliche an der Schule oder ähnliche Faktoren gestört zu werden.

Dazu kommt, dass die Schule für viele Opfer von Mobbing der Ort ist, an dem sie das größte Maß an Ausgrenzung erfahren. So gehen viele Schülerinnen und Schüler nur noch mit „emotionalen Scheuklappen“ in die Schule und versuchen irgendwie den Tag rumzukriegen. Das ist natürlich nicht besonders hilfreich.

Viele Jugendherbergen, insbesondere die naturnahen, haben zudem ein sehr schönes Außengelände, das wir bei Teamaufgaben meist deutlich besser und störungsfreier nutzen können als das bei einem Schulhof möglich ist.

Abschließend ist auch die magische Atmosphäre von Klassenfahrten nicht zu unterschätzen. Es ist einfach etwas anderes, ob die Schülerinnen und Schüler nach einem Programm wieder nach Hause fahren, oder ob sie sich abends, noch in den Hochbetten liegend, im Dunkeln darüber austauschen in wen sie verliebt sind, und sie vielleicht auch noch den ein oder anderen Moment aus dem Tag reflektieren und dabei beschließen, sich ab jetzt dafür einzusetzen, dass sie den Rest ihrer Schulzeit keine emotionalen Scheuklappen mehr tragen müssen, sondern sie sich für einen Normen- und Werterahmen einsetzen wollen, in dem alle so sein können wie sie nun mal sind.

Links Sven Fritze, rechts Thorsten Kröber (Gründer und Vorstand des Helden e.V.)

Angebote von Helden e.V. in Jugendherbergen:

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