Andreas Steinhöfel: Kinder brauchen Ehrlichkeit

Ein Portraitfoto von Andreas Steinhöfel

Mit „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ gelang Andreas Steinhöfel, was es vorher so noch nicht gab: „… eine ganz besondere Milieuschilderung, die weder diskriminierend gegenüber den Figuren noch überfürsorglich pädagogisierend gegenüber seinen jungen Lesern ist, sondern einfach nur treffend und liebevoll“, so das Urteil der Jury des Deutschen Jugendliteraturpreises. Wertfrei und ehrlich erzählt er von der Freundschaft zweier sehr unterschiedlicher Charaktere.

Für seine Werke wurde Andreas Steinhöfel unter anderem mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Einige seiner Bücher zählen mittlerweile zur Standard­lektüre an deutschen Schulen. Hier spricht der Kinder- und Jugendbuchautor über das Geheimnis seines Erfolgs, Vielfalt in der Sprache und Bildungschancen.

Vor ein paar Jahren sprachen Sie in der Extratour darüber, dass Kinder Freiheiten brauchen, um sich zu entwickeln und äußerten sich sehr kritisch zu dem Verhalten der sogenannten Helikopter-Eltern. Wie hat sich aus Ihrer Sicht seither verändert?

Es ist gut, wenn Eltern sich um ihre Kinder kümmern. Diese simple Tatsache ist deshalb erwähnenswert, weil manche Eltern das nicht ausreichend tun. Und andere übertreiben es – warum? Ich vermute, da spielt Angst eine ­große Rolle. Die Welt entzieht sich mehr und mehr unserer persönlichen Einflussnahme, an allen Ecken und Enden lauern Bedrohungen. Da ist es erst mal völlig normal, dass ich diejenigen, die ich liebe, so gut wie möglich zu schützen versuche. Problematisch wird es, wenn ich ihnen dadurch die Luft zum Atmen nehme oder die Möglichkeiten verwehre, selbst Entscheidungen zu treffen. Wir lernen durchs Scheitern, nicht durchs Gewinnen. Das, was wir dabei lernen, ist Demut, ein Wort – und ein Wert –, das Prinzen und Prinzessinnen nicht kennen.

Die großen übergeordneten Themen der Reihe um Rico und Oskar sind Toleranz, Individualität, Vielfalt und Inklusion – Werte die auch für das DJH wichtig sind. Ihre kreativen Wortschöpfungen wie die Tiefbegabung von Rico wurden hoch gelobt. Obwohl Sie nichts wirklich beim Namen nennen, scheinen Ihre jungen Leserinnen und Leser genau verstanden zu haben, worum es geht. Ist Das Geheimnis Ihres Erfolgs, dass Sie trotz des kreativen Vokabulars nichts beschönigen?

Es liegt wohl eher daran, dass ich nicht werte. Solange wir einem Kind mit mittelprächtigen schulischen Leistungen das Gefühl geben, dass es eigentlich nur mit einem akademischen Abschluss etwas taugt, solange wird dieses Kind sich misstrauisch vor uns zurückziehen. Über die Jahre habe ich Tausende von Briefen erhalten, in denen Kinder, unabhängig von allen Schulformen, mir immer und immer wieder schreiben: Der Rico, das ist endlich mal einer, der so fühlt und so denkt wie ich. Das heißt, sie fühlen sich angenommen mit ihren – oft nur vermeintlichen – Defiziten.

Ein Portrait von Andreas Steinhöfel

„Keinem Kind ist ein Gefallen damit getan, wenn man seine Leistungen überbewertet. Das Leben fordert solche Geschenke irgendwann gnadenlos zurück.

– Steinhöfel

Wertschätzung und Toleranz drückt sich viel durch Sprache aus. Anders als in Ihren Büchern kann man sich im Alltag nicht immer mit so wunderschönen Wortschöpfungen wie Bingokugeln im Kopf behelfen. Wie gehen Sie damit um und wie wichtig ist z. B. eine gendergerechte Sprache oder Vielfalt in der Sprache für Sie?

Gendergerechte Sprache halte ich für einen ideologischen Wunschtraum. Ein Begriff wie „Vielfalt in der Sprache“ klingt von Haus aus nett, wird aber problematisch, wenn diese Vielfalt nicht auch negatives und kritisches Gedankengut abbilden darf. Eine Vielfalt, die sich darauf beschränkt, nur bunte und positive Aspekte zu betonen, ist naiv. Die Welt wird nicht dadurch gerechter und menschenfreundlicher, dass ich sie in schöne Worte kleide. Ein Rassist wird zum Beispiel nicht dadurch weniger Rassist, dass er sich nicht mehr rassistisch ausdrücken darf.

Sie bekommen bestimmt Feedback von Kindern und Jugendlichen. War schon mal etwas dabei, das Sie sehr überrascht hat?

Die meisten Leserbriefe gleichen einander, mehr oder weniger. Kinder lachen gerne, und sie haben’s gerne spannend. Und klar gibt es Interpretationen meiner Bücher, die ich selbst nicht unbedingt nachvollziehen kann, aber dafür ist Kunst ja da: um uns möglichst viele Blickwinkel zu eröffnen, auch vom Künstler unbedachte. Wirklich verblüfft hat mich mal die Kinderfrage, ob ich manchmal traurig bin, wenn ich lustige Sachen schreibe. Da hatte offenbar ein sehr junger Mensch schon die aristotelische Poetik durchschaut. Und mich als Autor; der Satz traf jedenfalls mitten ins Herz.

Wie blicken Sie auf die aktuellen Entwicklungen im Hinblick auf die Bildungschancen von Kindern unterschiedlicher Milieus?

Bildung hat nur dann einen Wert, wenn sie nachdrücklich eingefordert wird. Das klappt nicht, wenn man, wie zum Beispiel in Berlin geschehen, im Zeugnis ganze Schuljahrgänge um eine Note besser einstuft, weil sonst der Notendurchschnitt im Eimer wäre. Keinem Kind ist ein Gefallen damit getan, wenn man seine Leistungen überbewertet. Das Leben fordert solche Geschenke irgendwann gnadenlos zurück. Ich bin ein großer Anhänger der Idee von Inklusion und von ethnisch und auch sprachlich gemischten Schulklassen, aber solange es an der finanziellen und personellen Ausstattung hapert, um den damit verbundenen Herausforderungen sinnvoll zu begegnen, bleiben das wohlfeile politische Lippenbekenntnisse – ausbaden müssen es Lehrer, Schüler und Eltern.

„Was Kinder aber wirklich nicht abkönnen, sind Unwahrheiten, selbst wenn die in noch so hübscher Verkleidung daherkommen.“

– Steinhöfel

In mehr als 30 Prozent der deutschen Haushalte wird nicht vorgelesen. Welche Folgen hat das aus Ihrer Sicht?

Negative nur dann, wenn auch sonst nichts Gemeinsames mit den Kindern veranstaltet wird. Dass wir uns nicht falsch verstehen: Für mich ist Lesen eine Kulturtechnik, die dringend beherrscht werden sollte, mehr aber auch nicht. Irgendwann hat sich der Mythos entwickelt, dass nur der lesende Mensch ein wirklich guter Mensch sei. Aber es gibt warmherzige, intelligente und patente Menschen, die nie ein Buch in die Hand nehmen. Und es gibt haufenweise Deppen mit vollen Bücherregalen. Lesen, als Lektüre von Büchern begriffen, mag etwas übers Konzentrationsvermögen aussagen, aber ganz sicher nichts über den Wert eines Menschen.

Zum Ende möchten wir mit Ihnen noch einen Blick in die Jugendherbergen werfen. Was würden Rico und Oskar von einer Klassenfahrt oder Ferien in einer Jugendherberge halten?

Ich habe ausschließlich gute Erinnerungen an Jugendherbergen. Als Kind und Jugendlicher habe ich das gemeinsame Übernachten mit vielen Freunden geliebt, ebenso das Zusammensein mit anderen Kindern aus anderen Orten oder mit anderer Herkunft. Jugendherberge bedeutet für mich unterm Strich: viel Gewusel, jede Menge Spaß, aber natürlich auch die Möglichkeit von Konflikten. Meine kleinen Helden würden hervorragend in so ein Setting passen: Oskar, der ein wenig neurotische Hochbegabte, würde wahlweise durchdrehen oder andere Kinder mit seiner Besserwisserei nerven. Rico würde freundlich mit jedem anbändeln und jede Dummheit mitmachen. Vermutlich würde er beim Wettpinkeln aus dem Fenster fallen und dann, unten in den Blumenrabatten gelandet, etwas entdecken, das eine rasante Abenteuerstory in Gang setzt. Dazu jede Menge ihm unbekannte Kinder – wer ist Freund, wer ist Feind? Da ließe sich tatsächlich was draus machen.

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